Flucht gescheitert
Flucht gescheitert
Sie steht am Tor und bittet dringend um ein Gespräch. Dem Mitarbeiter sagt sie nur, dass ihr Mann «Probleme» habe. Das bedeutet meistens, dass sie in Blutrache sind. Wir holen sie rein. Sie ist jung, trägt schwarz. Sie guckt mich an und fragt, ob ich auch sicher Schwester Christina bin und ihre Augen suchen blitzschnell und hellwach den gesamten Raum ab, als vermute sie selbst im Schrank den Feind. Dann erzählt sie ihre Geschichte. Sie hat vor 8 Jahren geheiratet. Sie wusste nicht, dass ihr Mann zu jener Sippe zählt, die in zweifacher Weise « im Blut» ist. Hier wurde getötet, die Söhne müssen büssen. Dazu gehört ihr Mann. Eine Schwägerin hat bei der Hochzeit damals mitleidsvoll zu einer anderen Frau gesagt, wie leid es ihr tut, was dieser jungen Frau nun bevorsteht. Das hat sie gehört, aber sie gehörte schon diesem Mann. Nach dem Kanun war das Ritual geschehen.
Der Mann versprach, mit ihr ins Ausland abzuhauen, Asyl zu beantragen. Sie gingen schnell nach Schweden. Dort haben sie zwei Töchter bekommen. Die sind nun 6 und 4 Jahre alt. Nun wurde das Asylverfahren abgelehnt, sie mussten jetzt zurück. Sie sind die einzige Familie der Sippe, die jetzt hier sind. Damit sind sie die absolute Zielscheibe des Rächers. Die Frau hat auch Angst um ihre Töchter. Ihr Mann ist isoliert – in den eigenen vier Wänden eingesperrt. Nicht Corona ist der Grund, sondern die gefürchtete Rache. Zur gleichen Zeit nun, ein paar Stunden danach, gibt mir Siri eine Bleistiftzeichnung, die sie in der Nacht gemalt hat. Sie sagt dazu, es wäre ein Mädchen in Blutrache, das aus dem Fenster schaut und ebenfalls isoliert ist. Und ich denke an die beiden Töchter der Familie, die zurückgeschickt wurden.