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Heile, was verwundet ist

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Freunde in der Heimat

Wir grüssen Euch herzlich und in Dankbarkeit für alles, was wir in den letzten Wochen von Euch allen empfangen haben: viele gute Worte, Gedanken des Friedens, Gebete, materielle Hilfe, Transporte, Austausch von Gedanken, Meinungen und faire Kommunikation, Eure Zeit und unglaublich viel Engagement. Wir wissen uns beschenkt und fühlen uns von Eurem Netz der Solidarität mitgetragen und aufgefangen. Es gibt sie noch: die EINE WELT!  Danke Euch allen. Dies zuerst.

Wir danken auch Gott und erleben wie ER wirklich jeden Tag bis ins Kleinste sorgt. Dazu eine kleine Anekdote: unser alter CD-Player funktionierte nicht mehr. Aber ich brauche den Player immer wieder für eine Gruppe zur Meditation usw. CD-Player sind aber scheinbar voll „out“ – die gibt es in den Geschäften hier nicht mehr. So war ich halt „ohne“. Und vor gut einer Woche rief mich Sr. Michaela, die gerade den Hilfstransport mit abgeladen hatte. Sie hielt mir freudestrahlend eine Schachtel entgegen: es war genau derselbe CD-Player drin, der uns kaputt gegangen war.

Und noch ein besonderes Zeichen für mich – von IHM: heute Früh nach der Laudes war ich beim fast täglichen Rundgang im Garten. Der Platz bei der ehemaligen Trauerweide ist ein wenig leer und ich sinnierte über ein paar grosse Hortensienstöcke nach, die dort wunderbar wären - so träumte ich. Am Mittag kam Sr. Michaela und bat mich an den Gartenzaun. Unsere Nachbarin fragte an, ob wir ihre grossen Hortensienstauden möchten, sie sind ihr im Garten zu gross geworden! Kleines oder grosses Zeichen meines sorgenden Gottes!

Diese Zeichen sollten wir in all den Katastrophen hier nicht übersehen, denke ich. Und draussen im Garten haben wir ein Rosenmeer, die Bienen trinken sich am Nektar satt und es ist einfach schön. Zeichen des Lebens. Von den Rosen klaube ich jeden zweiten Tag Unmengen von Läusen und ich bilde mir ein, dass die Rosen dafür dankbar sind und umso kraftvoller und intensiver in den Farben blühen! Selbst die Muttergottes in der Grotte draussen ist so von Rosen umrankt, dass sie die Natur selbst zur Rosenkranzkönigin ernannt hat.

Und daneben sozusagen unser tägliches Kontrastprogramm:

Die Not, das Elend, das so Tag und Nacht vor unserer Türe pocht und unbarmherzig mit den Menschen scheint. Und hier im Klösterle scheinen sich dann so manches Mal Extreme zu versöhnen.  Je tiefer die Menschen hier in der Not versinken, desto mehr scheinen wir der Anker der Hoffnung zu sein. Jeden Tag könnten wir viele Seiten eines grossen Buches füllen, für das ich aber keinen Titel habe. Derzeit beschäftigt uns viel das Thema „Gewalt“. In allen Variationen und immer präsent. Ob jemand einfach aus Langeweile über eine Schildkröte fährt oder die Mutter ins Wasser geht und vorher ihre drei Kinder ertränkt, ob der Patient mit Krebs im Endstadium gerade eine Paracetamol als Schmerzmittel bekommt oder der Pfarrer seinem Chor sagt, dass sie von der Sr. Christina eine Spritze kriegen, wenn sie nochmal falsch singen oder man den Kindern lernt, dass die Rute das Eingangstor zum Himmel ist, bis zum Vermüllen der Natur: all das ist jeden Tag unser Thema.

Ich hatte das Thema „Gewalt und Gewalt in der Pflege“ vor kurzem mit den Schülern des Pflegekurses. Und ich gebe zu, ich habe diese Stunden noch nicht wirklich selbst verarbeitet. Die Studierenden waren am Beginn eingeladen, einfach eine „Imagination zum Thema Gewalt“ zu malen. Mit was ich nicht gerechnet habe, obwohl ich ja eigentlich weiss, dass Gewalt hier überall ist: die Teilnehmenden malten ausschliesslich alle ihre Gewaltgeschichte. Als ich die Bilder sah, gefror mir das Blut in den Adern. Ich wusste, dass ich auf keinen Fall zum Thema übergehen kann, ohne diese Realität - in Bildern vor mir - irgendwie aufzugreifen. So schwieg ich erstmal. Dann geschah das menschliche Wunder: eine Teilnehmerin fragte leise – mit Tränen in den Augen, ob sie ihr Bild erzählen darf: Die Gruppe nickte, ich sowieso. Und sie erzählte unter Tränen ihre Gewaltgeschichte.

Ich stand auf, ging zu ihr. Alle anderen zeigten ihre Empathie. Und dann war das TABU gebrochen: Alle, alle – die Jungs, die Mütter und Ehefrauen, die Klosterschwestern fingen an zu reden: das erste Mal. Sie waren von ihrem Mut überwältigt, aber auch erleichtert, dieses dunkle Geheimnis mit anderen teilen zu dürfen. Ich bin noch immer betroffen. Eine Teilnehmerin malte den Gürtel ihres Vaters. Und dann erzählte sie stockend ihre Geschichte. Und dann: „War das jetzt Verrat am angesehenen Vater, der der beste Freund des Pfarrers war, hoch angesehen usw.?“ Wir redeten lange. Am Ende dieser Stunde legte ich eine Rose in die Mitte dieser Gewaltlebensgeschichten und es entstand spontan ein Heilungsritual und ein tiefes Gebet um Heilung der Wunden. Erleichterung, aber auch: Heilung braucht Zeit. Und so fuhren wir am letzten Dienstag ans Meer. Die Studierenden sind hungrig nach „Spiritualität“ – so möchte ich formulieren. Eine kleine Meditation mit allen Sinnen am Meer, die Betrachtung der ersten Worte der Bibel: „und der Geist schwebte über den Wassern“ unterm Rauschen des Meeres mit geschlossenen Augen, war einfach eindrücklich für alle. Dann wurde in drei Gruppen kreativ gearbeitet zu den Themen:

•    Gedenken an all die Flüchtlinge, die hier im Mittelmeer ertrunken sind
•    Müll am Strand, Vermüllung
•    Maria, Stern des Meeres, bitte für uns

Die Materialien für den jeweiligen Blickfang, der zu gestalten war, sollten sie am Strand finden.

Und sie legten los, das ich nur noch staunen konnte. Es entstanden regelrechte Kunstwerke, die zu denken geben. Für „meine Schüler“ war es ein imposantes Erlebnis, wie man „Meer auch erfahren kann“. Wir gehen zum Schluss von „Station zu Station“ und die Gestaltenden erzählen die Entstehungsgeschichte. Und da ist dann Alda, die bei der Gruppe des Flüchtlingsgedenkens war. Sie bricht plötzlich in Tränen aus und redet dann: „Nun hat mein Bruder endlich ein Grab!“ Und die jahrelange stumme, kalte Trauer bricht sich ihren Weg. Sie redet und redet: Ihr Bruder ist mit seinem Gummiboot vor 15 Jahren mit anderen aus der Umgebung nach Italien. Viele sind ertrunken. Man hat wenigstens von den meisten ein paar Knochen oder ein Kleidungsstück gefunden, von ihrem Bruder nur ein Teil vom Boot. Die Eltern suchen immer noch – verschwiegen und im Meer des Kummers ertrunken. Sie sagt, nun kann sie hierher zum „Grab“ und endlich weinen!

Ich denke, die Wahrnehmung ist bei vielen hier völlig verkümmert. Die Wahrnehmungsschulung ist uns deshalb ein wichtiger Teil im Alltag geworden. So habe ich irgendwann angefangen, meinen Patienten immer mal wieder eine kleine Blume oder ein Smiley auf den Terminzettel zu malen, hin und wieder renne ich auch in den Garten und verschenke eine Rose. Regelmässig löst das unglaubliches aus. Sie weinen, sie küssen einem die Hände oder sie sagen, sie erleben dies als totale Wertschätzung. Eine Frau hatte nie ihren Terminzettel an den „Türöffner“ Leci gegeben. Sie sagte mir dann, dass sie diese Zettel nie mehr aus der Hand gebe, alle sammle, weil da was „drauf ist, was sie noch nie im Leben bekommen habe“.

Und da ist dann ein kleiner Junge, der Kestrin heisst. Kestrin hat die sog. Bluterkrankheit. Sein Blut gerinnt nicht, weil ihm ein Gerinnungsfaktor fehlt. Er und auch sein Bruder leiden sehr darunter. Hier an so einer Krankheit zu leiden, ist wirklich eine menschliche Katastrophe. Die Mutter leidet manch-mal mehr als ihre beiden Söhne, wenn sie dieses Leiden ihrer Kinder mit ansehen muss. Nun kam Mira mit Kestrin hierher, weil sie eine Salbe für das Hämatom am Bein wollte. Ich nahm sie in die Ambulanz und Kestrin fing nach zwei Minuten an zu zittern, zu krampfen, er bekam Atemnot und blaue Lippen, der Puls war nicht mehr zu zählen, so raste er. Ich war völlig überrascht und rief Miriam und Sr. Michaela zu Hilfe, da auch die Mutter in einen kritischen Angstzustand geriet. Sie sagte dann so nebenher, dass das wie vorgestern sei, als sie zum ersten Mal den Gerinnungsfaktor nach dem Sturz von Kestrin gespritzt hatte. Ich begriff und fragte nach: sie hatte den Faktor eine halbe Stunde vor dem Besuch bei uns wieder gespritzt. Die Ärzte haben ihr gesagt, sie könne das in Zukunft selbst machen, es reiche, wenn sie anrufe, wenn „etwas mit ihren Söhnen sei“. Sie hatte die Anweisung bekommen, dem Kleinen den Faktor zu spritzen. Er hatte die Kanüle im Fussrücken. Mira erzählte, dass sie nach dem Sturz zum Legen des intravenösen Zugangs im Krankenhaus waren. Dort haben sie 14 Mal in den Venen gebohrt - unter Festhalten und „fest schimpfen, weil der wilde Junge wieder hingefallen war und auch noch so schlechte Venen habe“.  Als sie das erzählte, schnürte es mir die Kehle zu. Und Kestrin fing an gelbe Galle zu speien -  meine Galle war es wohl auch. Es ging ihm extrem schlecht. Ich hielt die Atemwege frei, versuchte zu beruhigen – mehr konnte ich in dem Moment nicht tun. Nach etwa 40 Minuten ging es ihm etwas besser, aber ich war sehr in Sorge. Ich wusste wirklich nicht, ob er mir schlichtweg unter der Hand wegstirbt. Mira rief auf meine Anweisung unterdessen in der Kinderklinik in Tirana an, um zu fragen, was notwendig ist und um sofort kommen zu können. Die Ärztin sagte, das wäre normal, da müsse der Kleine durch, das sei halt so und sie könne nicht kommen. Nachdem ich dann das Handy nahm und dasselbe schilderte, sagte die Aerztin der Hospitalisierung des Jungen zu. Ich schrieb einen Begleitbrief. Als es Kestrin besser ging, wartete er noch mit seiner Mutter bei uns in der Sitzecke im Korridor. Ich wollte sicher sein, dass er es schafft. Als ich nach kurzer Zeit nach ihm und seiner Mutter schaute, da streckte mir Kestrin ein Papierflugzeug entgegen und sagte: „Für den kleinen Toni da drin im Saal!“ Er hatte Antonio gesehen und dann aus dem Beipackzettel seines Gerinnungsfaktors einen Papierflieger gebastelt. Es bewegt mich sehr und den Papierflieger mit seinem lebensrettenden Medikament, das jetzt hoffentlich keine gefährliche Gegenreaktion erzeugt hat, habe ich auf meinem Schreibtisch. Dann fuhr die Mutter mit Kestrin in die Klinik nach Tirana. Da es Freitag war und der Montag darauf das orthodoxe Osterfest, schickten sie ihn aber wieder heim. Sie nahmen die Blutwerte ab und die waren normal. Wie es bei einer weiteren notwendigen Injektion des Faktors dann wird, dies interessiert eigentlich niemanden im Krankenhaus.
 
Die Situation ist für die Kranken jeden Tag schwieriger, umso mehr kommen zu uns. Vorgestern kam ein Hilferuf aus der Brandklinik in Tirana. Zwei Familienmitglieder von insgesamt vier Verletzten sind 60 und 70 Prozent verbrannt. Die Angehörigen bettelten flehentlich um Brandsalbe und die Finanzierung von Albumin. Dies gibt es nicht in der Uniklinik. Albumin muss man in der Apotheke kaufen, Flammazine gibt es nicht hier. Die Fotos, die ich von den Patienten sah, sind selbst für mich schwer verdaulich.

In unsere Ambulanz kommen jeden Tag mehr Patienten – mit den unterschiedlichsten Symptomen und krassen Krankheitsbildern. Im Moment haben wir drei Männer, denen der Hautkrebs das halbe Gesicht weggefressen hat. Die schauen aus wie Zombies. Sie kommen auch, weil sie ein wenig seelischen Beistand kriegen, neben Verbandsmaterial und Schmerzmitteln. Sie kommen, bis sie der Körper nicht mehr trägt. In den letzten Wochen haben uns immer wieder Patienten leise angefragt, ob sie denn nicht hierbleiben könnten.

Ja zum Thema: hierbleiben!

Viele sind nicht mehr hier. Albanien erwartet einen Ansturm von Touristen bis zu 10 Millionen heuer. Wie das gehen soll, das ist uns rätselhaft. Ich gebe zu, ich denke mehr an die Mülllandschaften, die die wilde schöne Natur dem Untergang näherbringen werden. Und es gibt nicht mehr genug Einheimische, die diesen Touristenandrang versorgen können. Angeblich hat nun der Staat mit einem anderen nicht EU-Staat einen Vertrag geschlossen, dass 40.000 Arbeiter geschickt werden sollen.

Wie diese Vereinbarung aussieht, das wissen wir nicht. Moderne Sklaverei? Währenddessen können die Bauern ihre Lavendel- und Obsternten teilweise nicht mehr einbringen, weil sie keine Erntehelfer mehr haben oder diese die gestiegenen Mindestlöhne nicht mehr bezahlen können. Vor kurzem war ich in den Feldern. Der Lavendel kann in gut vier Wochen geerntet werden. Das Blau, das dann mit dem Wind in das Blau des Himmels getragen wird, zieht mich schon beim Drandenken in seinen Bann. Und so gehen wir mit Euch Pfingsten entgegen. Und wir wünschen und erbitten mit Euch den Geist Gottes, dass er die Erde erfüllen und die Herzen der Menschen zum Frieden lenken möge, dass  Heilung herabfliessen kann auf die geschundene Schöpfung und die verwundete Menschheit.

Mit herzlichem Segensgruss und bestem Dank

Sr. Christina mit allen hier

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