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Nebenschauplätze – oder doch zentral?

Liebe Schwestern und Brüder in der Heimat, liebe Freunde überall


Es ist Sonntag nach Ostern, der Sonntag der Barmherzigkeit, wie er heissen darf. Und ich denke, wie viele Facetten die Barmherzigkeit Gottes wohl hat in diesen Tagen? Und ich denke, wie viel Kreativität dieser Gott uns gibt, damit wir, ja wir, in dieser Krise das Erbarmen erfahren und weitergeben. Und ich frage mich, ob es mir das Herz und den Magen und das Gehirn umdreht und mobil macht, wenn ich an die Betroffenen der Krise denke und sie vor allem vor mir habe? Aber zuerst: wir hoffen, dass es Euch «drüben» einigermassen gut geht, dass Ihr nicht erkrankt seid und mit Euren Lieben irgendwie den Kontakt halten könnt. Wir hoffen, dass Ihr die «Massnahmen» unbeschadet überstehen dürft und ohne totalen «Koller» durchgehen könnt. Dafür bitten wir auch. Und wir beten, dass Gott der Allmächtige uns beherrschen darf, dass ER SEINE Gnade ausgiessen darf über uns und nicht das Virus alles beherrscht, alle Gedanken, alle Handlungen und Regungen. Wir hoffen und beten, dass der Geist Gottes, der Geist des Lebens in unseren jetzt sehr geschlossenen Lebensräumen den Atem des Lebens und der Heiligkeit und der Achtung vor jeglichem Leben neu ausgiessen darf. Und so wird das Virus und die Folgen nicht das letzte Wort haben.


Und wir hier? Ich möchte ein wenig aus der letzten Woche berichten. Wir hatten ja wirklich alle am Beginn vom Februar eine schwere Grippe. Viele Mitarbeiterinnen waren, ebenso wie Abraham, zusätzlich von einer schweren, doppelseitigen Lungenentzündung betroffen. Diese Phase ist vorbei. Aber Shkoder hat nun etliche registrierte Corona-Patienten. Unser Wohngebiet in Kiras und Dobrac ist sozusagen ein «Coronanest» geworden. Wir halten Hygieneregeln ein; die hielten wir aber sowieso schon vorher, da wir immer auch infektiöse Patienten in der Ambulanz haben. Uns beschäftigen hier mehr die «Nebenwirkungen» der Schutzmassnahmen und der Isolation, der Schliessung aller Institutionen und Geschäfte, der Fabriken usw.


Seit Freitagnachmittag herrscht nun bis Montag früh absolute Ausgangssperre. Aber seit gestern gibt es Ausnahmen: gestern durfte ich als Pensionistin (ab 60 Jahre) bis 11 Uhr mittags raus zum Luft schnappen. Heute dürfen nun Mütter mit Kids bis zu 10 Jahren auch so lange raus. So ein bisschen wie im Zoo. Schwester Michaela kam gestern an und meinte etwas ironisch:  «Heute bist Du dran, aber alleine. Morgen kann ich ja dann mit dem Toni raus auf die Promenade.» Wir haben zum Luftschnappen unseren Garten und geniessen jedes Blümle, das neu blüht.


Sr. Michaela und ich haben eine Sondergenehmigung für Sozial- und Krankendienste. Das sieht dann so aus: Wir befinden uns auf den Nebenschauplätzen: Jeden Morgen (ausser jetzt eben am Wochenende) fährt Sr. Michaela los mit ihrer Sondergenehmigung. Sie passiert Polizei- und Militärkontrollen inzwischen relativ unbehelligt. Sie kauft Unmengen von noch vorhandenen Lebensmitteln ein. Diese werden dann bei uns zu Carepaketen verpackt und dann wieder von Sr. Michaela an jene verteilt, die nicht aus den Häusern können. Die anderen Armen, die jetzt noch ärmer sind, stehen dann am Vormittag vor unserem Tor. Manche haben eine Gesichtsmaske, die meisten nicht. Wer Hunger hat, interessiert sich nicht für Schutz und kann vor allem keine Maske kaufen. Er braucht was zum Essen für die Kids. Zum Schutz davor, dass nicht etliche Familienmitglieder einzeln kommen, um mehr Pakete zu erhalten, müssen wir inzwischen die Identitätskarten verlangen. Oft kommt Sr. Michaela heim und erzählt, dass die Familien schon nichts mehr zum Essen hatten, bis von uns Nachschub kam. Und sie erzählen auch, dass die eingeschlossenen Kids jetzt viel mehr Hunger haben. Und auch unsere Kindergartenkinder haben keine Mittagsmahlzeit mehr, die sie im Kindergarten bekommen.


Wie viele inzwischen ihre Arbeit in Fabriken, als Tagelöhner, in Kleinstgeschäften etc. verloren haben, das wissen wir nicht. Es sind bestimmt viele. Neben Lebensmitteln gehört zum Carepaket inzwischen auch Seife zum Händewaschen. Wir hoffen, dass das Wasser einigermassen reicht, aber nicht alle haben Zugang.


Dann ist da ein neues Phänomen, mit dem wir in der Krise wohl auch rechnen müssen: Panikreaktionen der Patienten. Es wurde eine junge, relativ schwer verbrannte Frau angemeldet. Sie kam mit ihrem Mann und musste einige Augenblicke im Korridor warten. Die junge Frau war «schwer» ausgerüstet: professioneller Mundschutz, Handschuhe und nochmal ein Tuch rum. Dann marschierte Ndua, ein älterer Patient, aus der Ambulanz und die junge Frau rastete aus. Sie weigerte sich, in die Ambulanz zu gehen und sich dort das todbringende Virus zu holen, wie sie sagte. Sie ging voll auf Angriff über und ich blieb mal in sicherem Abstand stehen. Sr. Michaela versuchte, sie zu beruhigen. Aber da wurde es ihrem Mann zu viel und er wollte sie mit Gewalt in die Ambulanz zerren. Er war nahe daran, sie einfach zu verhauen. Das konnte verhindert werden. Wir erklärten dann, dass wir sie nicht zwingen werden zur Behandlung. Und wir gaben ihr das Verbandmaterial und die Salbe mit, in der Hoffnung, dass sie heilen darf. Solche Panikreaktionen müssen wir einfach im Blickfeld haben in solchen Zeiten. Das war unsere Passage zum Lernen. Und solange keine(r) bewaffnet vor uns steht, ist alles in Ordnung.


Dann ruft mich Sr. Rita an. Sie gehört einem ganz kleinen Konvent aus Italien an und ihre Schwestern und sie haben auch nichts mehr zum Essen, geschweige denn zum Verteilen an die Armen. Und sie bittet um einen Krankenbesuch bei einer noch recht jungen Frau, die mit Hirnblutung und Dekubitus unversorgt ist, da die Krankenschwester nicht mehr kommt aus Angst vor Corona. Diese Situationen haben wir jetzt sehr gehäuft. Ich packe alles ein, was mir so einfällt, um die Frau zu versorgen. Die 16-jährige Tochter der Patientin erwartet uns. Ricarda kümmert sich rührend um die Mama, aber sie hat Angst, weil sie eben jetzt alleine ist. Sose, die Mama, liegt sehr teilnahmslos im Bett. Damit sie ruhig bleibt, hat die Krankenschwester für die Zeit ihrer Abwesenheit einfach Haloperidol dagelassen. Das hat dann die Katastrophe bei Sose ausgelöst. Und sie ist seit drei Wochen wund gelegen. Das Trinken hat nicht mehr geklappt und so ist sie auch noch ausgetrocknet. Ich weiss, wenn wir es nicht schaffen, dass sie trinkt, wird sie an Austrocknung sterben, ihr Organsystem versagen. Ich arbeite mich zu Sose vor, indem ich mich zu ihr ins Bett setze und sie an mich ziehe. Sie ist nur noch Haut und Knochen. Meine Schutzmaske hängt irgendwo an einem Ohr und ich muss komisch ausgeschaut haben. Jedenfalls hat Sose dann irgendwann nach viel Zuspruch und Wangenstreichen reagiert und die Augen aufgemacht. Die Tochter fing zu weinen an, weil sie meinte, die Mama sei schon tot. Ich sagte Sose, dass jetzt noch nicht die Zeit zum Sterben sei, erzählte ihr, dass ihre Tochter sie noch brauche und dass schliesslich Ostern sei und sie noch nicht ins Grab könne jetzt. Als ich meine Bettpredigt beendet hatte, schlug sie nochmal die Augen auf und sagte glatt und trocken: «AMEN!» Nun fielen beinahe Sr. Rita und die Tochter in Ohnmacht. Dann gings weiter. Ich sagte: «Ein Glas Wasser bitte.» Ich sah einige Momente vorher, dass Sose wohl ihren Speichel geschluckt hatte, ein Zeichen, dass sie noch schlucken kann. Ricarda bekam Angst und sagte, ihre Mutter würde ersticken. Ich erklärte der Tochter ruhig, was ihr vorhatte und sie stimmte zu. Dann führte ich das Glas an den Mund und die Patienten schluckte und schluckte und trank das ganze Glas aus. Sie hatte Durst. Und dann lächelte sie. So erklärte ich dann Ricarda, wie sie ihre Mama versorgen könne und auch sie lächelte. Als ich dann Sr. Rita nach Hause fuhr, war da noch ein weiterer «Notfall», wie sie sagte. Vor ihrem Kloster kreuzte mit dem Radl ein älterer, magerer Mann auf. Sr. Rita erklärte mir, dass Gjon vor einigen Tagen aus dem Sanatorium entlassen wurde. Dort brauchen sie die Plätze wegen Corona und er mit seiner offenen Tuberkulose wurde mit einem Rezept heimgeschickt. Da stand er nun vor uns und hustete seine Tuberkel raus. Mundschutz, Handschuhe? Natürlich nichts dergleichen! Gjon hatte weder Geld seine Medikamente gegen die Tuberkulose zu kaufen noch eine Monete für Lebensmittel. Ich erklärte ihm, dass er unbedingt einen Mundschutz tragen müsse und zog ein paar unserer selbstgenähten aus der Tasche. Sr. Rita hat ihm dann noch Lebensmittel und etwas Früchte gekauft. Er hat offene Tuberkulose und wird bald das Blut husten, wenn er nicht Hilfe bekommt. Die Medikamente werden wir aus der Apotheke besorgen. Ich stellte mir dann vor, wie gerade die unsichtbaren Tuberkel von Gjon sich mit den Coronaviren treffen…und musste lachen. Und die gute Sr. Rita, meine Philosophenfreundin, fiel aus allen Wolken, als ich ihr erklärte, dass Tuberkelbazillen auch ansteckend sind und Gjon vermutlich an Tuberku-lose sterben wird, wenn er weiter so abmagert und sein feuchter Wohnwagen ein Tuberkel-nest bleiben wird. Ob Corona für diesen Mann eine Rolle spielt, wollte dann die Schwester wissen.


So häufen sich die Einzelfälle, die dem «Nebeneffekt» der Massnahmen zum Opfer fallen. Da ist noch Katharina, die voller Krebsmetastasen ist. Keiner kommt mehr, das Krankenhaus hat verweigert, ihr das massive Bauchwasser ab zu punktieren – wegen Coronagefahr. Keine Chance. Ich fahre zu ihr, bringe ein paar Erdbeeren, die sie noch essen kann. Sie spricht von ihrer Tochter, die in Italien festhängt. Letzte Gespräche – wir beide wissen es. Sie ist tief gläubig, ich bringe ihr die Hl. Kommunion. Und Schmerzmittel, denn die Tumorschmerzen sind unerträglich geworden. Aber sie erträgt alles. Sie wartet auf ihre Tochter. Und das Bauchwasser - nicht Corona - drückt ihr den Atem ab.
Und dann ist da die nächste Krebskranke ohne Schmerzmittel. Die anderen kommen nicht mehr. So ist unser Gebiet nun um einiges erweitert. Wir denken nicht an den nächsten Tag, was wir heute tun können, tun wir, das Morgen hat seine eigene Sorge, steht schon irgendwie so geschrieben.


Da sind dann auch noch unsere zwei Jungs. Der Antonio ist einfach ein Sonnyboy, aber auch er nimmt die Corona-Atmosphäre auf seine Weise wahr. So schlägt er vermehrt nach meiner Brille oder er macht einfach total Quatsch, wenn er essen soll. Abraham hatte einen Ausraster, weil einfach an Ostern ein Ritual ausgefallen war. Er hat nur noch geheult und geheult, dann konnte er gut artikulieren, was ihn so beschäftigt: «Nicht das ausgefallene erste Eis an Ostern, nicht dass es unbedingt das Schoki-Osterei nicht gab, sondern einfach, dass das Gewohnte nicht mehr ist. Und keine Freunde, keine richtige Schule, alle nur mit Corona… und immer wieder nur Corona. Uns ist, durch unsere Kids, jeden Tag sehr klar, wie sehr es den Familien jetzt an den «Nerv» gehen kann, wenn zu allen Sorgen um Arbeits-plätze, um die Ernährung, die Angst vor der Erkrankung auch noch rebellierende, streitende und provozierende Kids und Jugendliche daheim eingesperrt sind. Das ist die Heraus-forderung, der wir uns auch als Klosterschwestern stellen und mit allen Familien hautnah teilen. Auch wir haben Nerven und es ist uns bewusst, dass wir uns hier in dieser Corona- Sondersituation ganz bewusst in der Hand haben müssen. Und wenn da ein provokanter Schmetterer kommt von einem Jungen, der ganz genau weiss, dass er zur Risikogruppe gehört, dann ist es umso nötiger, das «dahinter» auch mitzuhören. Geduld brauchen wir alle ein paar Kilo mehr.


Und so können wir auch noch lachen, können miteinander die Zeit nutzen, eine Mühle spielen, in den Garten gehen und Sr. Michaela ist jeden Tag der Torwart und Abri knallt seine Bälle aus dem Rollstuhl, manchmal ein wenig aggressiver als sonst, ins Tor.


Ich möchte es nicht versäumen, Euch allen, die Ihr uns in diesen Zeiten mit Eurem Wohl-wollen, Eurer Solidarität, Euren Spenden und Euren Gebeten begleitet, unser ganz tiefes DANKE zu sagen. Vergelt`s Gott.
Möge der Allmächtige Euch gesund bleiben lassen und uns alle in diesen Zeiten vor allem bewahren, was uns schaden mag.


Mit herzlichem Segensgruss


Eure Sr. Christina mit allen hier im Klösterle

april 2020

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